Was ist Trauer, was ist trauern?
Hans J. hat selber Schweres durchgemacht. Er hat einige gute Gedanken zum Thema 'Trauern' aufgeschrieben.
Bei der Flutkatastrophe in Asien haben viele Menschen ihre(n) Ehepartner(in), ihre Eltern, Kinder, Freunde oder Verwandte verloren. Aber auch sonst kann es passieren, dass wir jemanden verlieren, der uns sehr nahe steht. Dann sind wir traurig. Wir trauern. Was bedeutet das eigentlich? Wir denken, es ist gut, sich auch über solche ‹schweren› Themen einmal Gedanken zu machen. Jede(r) von uns kann einmal betroffen sein und jemanden verlieren, nicht nur bei Katastrophen wie in Südostasien.
Trauern
Hans J. hat selber Schweres durchgemacht. Er hat einige gute Gedanken zum Thema ‹Trauern› aufgeschrieben. Er hat uns erlaubt, dies in der ‹Gemeinschaft› in vereinfachter Sprache und etwas verkürzt abzudrucken. Die folgenden Gedanken sind persönliche Gedanken von Hans. Wir drucken sie ab, ohne sie zu kommentieren oder zu verändern.
Persönliche Gedanken zum Thema Trauern
Was bewahrt den Menschen vor Verkümmerung? Was erhält dem Menschen seine Leistungsfähigkeit und seine Freude? Komisch, aber es ist die Fähigkeit zum Trauern! Trauern ist Arbeit der Seele. In der Trauer befeit sich die Seele von Bindungen, die nicht mehr lebendig sind. Trauerarbeit ist schmerzvoll, darüber dürfen wir uns nicht täuschen. Wir weichen dem Schmerz oft aus und trauern nicht. Manchmal wissen wir nicht, wie trauern. Dann finden weder Trauerarbeit noch Abschied statt. Mit den Abdankungsfeiern (Beerdigungen) in der Kirche ist es nicht getan.
In den ersten Tagen nach einem grossen Verlust können alle Betroffenen noch gar nicht über Verlust, Schmerz und Trauer zu sprechen. In der Gesellschaft ist Trauer ein Tabu. Die meisten kennen den trauernden Menschen und das eigene Ergriffensein nur wenig. Trauer gibt es in verschiedenen Erscheinungsbildern. Sie ist ein Gefühl, das mit uns geboren wird und gleich im Geburtschrei zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Wir trauern auch, wenn unsere Zeit gekommen ist und wir vom Leben Abschied nehmen müssen.
Trauer ist immer und überall da, wenn wir von Erfahrungen der Trennung, des Abschiedsnehmens und des Verlustes stehen. Die Möglichkeit, solche Situationen durch Trauer zu bewältigen, ist vielen Menschen nicht bekannt. Trauer ist nicht erwünscht, und wir sind so erzogen, dieses Gefühl vor Andern und in der Öffentlichkeit zu unterdrücken. Wenn es unbedingt sein muss, trauern wir irgendwo im Stillen, und wir probieren, es schnell zu beenden.
Maschinen und Computer weinen und trauern nicht. Diese Gesellen aus Eisen, Glas und Plastik formen unsere Gesellschaft stark. Schon früh im Leben erfahren wir: wir sollen Trauer nicht zeigen. Ja, wir werden daraufhin programmiert, möglichst ohne Trauer zu leben. Unsere ganze Umwelt hat uns zu dienen, ohne Gefühle (z.B. die Wirtschaft).
Wir bewältigen das Trauern mit vielen Mitteln:
Wir spenden grosszügig und haken das Elend schnell ab. Tränen vergiessen wir nicht für all die Waisenkinder in Südostasien. Wir schlucken lieber Beruhigungstabletten und üben Entspannung durch moderne Vergessensstrategien (z.B. Yoga). Wir lassen unser Gesicht versteinern und sind viel zu aktiv. Wir betäuben unsere Sinne und Erinnerungsfähigkeiten durch Schauspielern, oder wir trauern im Joggen und lassen Schweiss statt Tränen fliessen. Über Trauergefühle Gedanken zu machen ist sehr unpopulär (= unbeliebt, unangenehm). Das findet man fast nirgends in der Forschung oder der Wissenschaft. In den vergangen Jahren entdeckten wir, dass diese antrainierte Unfähigkeit zu trauern teuer zu stehen kommt.
Viele werden krank, ganze Bevölkerungsschichten leiden, versteinern und werden depressiv. Die Medizin, die Psychologie, die Theologie und die Psychotherapie können uns viele Antworten nicht geben.
Wie gehe ich mit der Trauer um?
Dazu ist fast überall Ratlosigkeit. Wir sind nicht mehr fähig zu trauern. Wir sind verkrüppelt. Das spüren fast alle auch körperlich. Viele sagen mir, ich kann nicht fühlen! Es ergibt ein bedauernswertes Bild. Viele Menschen um uns und unter uns erleben sich als gefühlsbehindert. Deshalb kann man auch vielen nicht helfen. Das einzige, was die meisten von ihnen davon merken: sie haben zu viel Anstrengung im Alltag, bekommen Resignation (= alles aufgeben) und Sinnverlust, Depressionen und eine merkliche Verminderung ihres Lebenswillens.
Viele werden täglich mit ihrer Trauer alleingelassen
Sie erfahren keine Solidarität, keine Orientierung und auch kein Verständnis für ihren Schmerz. Selbst nahe stehende Arbeitskollegen, Freunde sind überfordert und gehen vorerst auf Distanz. Mit der Ausrede (‹wir wollen Euch in Ruhe lassen›) verdoppeln sie oft noch den Schmerz. Wir leben in einer Gesellschaft, welche die Trauer tabuisiert, missbilligt und unfähig ist zu trauern. Es gibt viel Ungewissheit, Mangel an Information und Missverständnisse.
In der Mongolei erlebten wir eine ganz andere sichtbare Anteilnahme. Es wird mir gut tun, wenn du mir zuhörst, wie mein eigener Weg durch die Trauer verlaufen ist. Ich kann dir versprechen, dass ich dich so, wie du bist und so wie du trauern kannst, akzeptieren kann. Hab keine Angst. Wenn du Dich so, wie du bist, in Deiner Trauer annimmst, dann sind wir zwei. Zu zweit können wir uns gegenseitig unterstützen und lernen, weniger Angst zu haben. Jeder Mensch ist unwiederholbar, einzigartig, und das gilt auch für deine Weise zu trauern.
Wir haben viele Gelegenheiten zu trauern: beim Tod von Kindern (was den schwersten Verlustschmerz überhaupt hervorruft), von Partnern, Geschwistern und Eltern, in unheilbaren Krankheiten, beim Verlust von Arbeit, Lebenszielen, beim Älterwerden und auch beim Abschied von Illusionen. Jeder Mensch auf dieser Erde muss manchmal trauern. Der Verlust hat viele Reaktionen: Weinen, Kummer, Jammern, Versteinern, Erschöpfung, Apathie, Schweigen, Stöhnen Schmerzgeschrei, Angst, Wut, Groll, Ärger, Vorwürfe , Resignieren (= aufgeben), Hilflosigkeit, Hoffnungsverlust, Selbstaufgabe, Sichgehenlassen, Verzweiflung. usw.
Trauern ist ein Prozess. Deshalb wechseln alle diese Gefühle ab. Wenn wir der Trauer frei lassen, kann sie von selbst fliessen und nach aussen gelangen. Wenn wir alles unterdrücken, wird sich dies zerstörerisch auswirken. Es gibt keine Abkürzung. Die Trauer muss durchlebt werden, damit wir wieder gesund werden.
Jede Sekunde trauert eine Mutter um ihr verstorbenes Kind, das an Hunger stirbt (Angabe am Welternährungstag an der ETH Zürich). 120 Millionen Menschen sind echte Flüchtlinge. Hören wir Nachrichten, erreichen uns täglich Schreckensmeldungen. Ganz zu schweigen von der Not in Südostasien. Vor kurzem erzählte mir eine Frau: die Trauer lasse ich nicht zu, sonst habe ich Angst, verrückt zu werden. Wir zeigen uns gefühlskalt und lassen das Trauern nicht zu. Es ist kein Wunder, dass Depression heute die häufigste Krankheit ist!